Polizeinotruf in dringenden Fällen: 110

Menü

Inhalt

In der 5. Klasse hatte er bereits drei Strafanzeigen. „Ich musste viele Freunde gehen lassen, um einen anderen Weg einzuschlagen“, sagt Berat Ergüner.
Kurve gekriegt
Mit elf Jahren befand sich Berat Ergüner schnurstracks auf dem Weg in den Knast. Als 22-Jähriger ist er abgebogen und hat die kriminelle Zeit hinter sich gelassen.
Streife-Redaktion

Ein Pausenhof in einem sozialen Brennpunkt von Duisburg. Vier Männer, die übliche Ghetto-Begrüßung; „Hey, was geht?“ Check. Es ist kurz vor acht Uhr, gleich wird es klingeln. Die Schulzeit von Selim, Mahmut, Emre und Berat ist längst vorbei. Dennoch werden sie gleich in den Unterricht gehen und einen Streit beginnen. Mahmut wird schreien: „Schwächling, Schwuchtel, Lappen.“ Emre wird den Kopf einziehen, immer kleiner werden. Mahmut wird weiterbrüllen: „Wer ist der Mann, sag, wer?!“ Dann wird er zuschlagen: „Kapier endlich, das ist eine Frage der Ehre. Übernimm endlich Verantwortung, Mann.“

Beleidigungen. Drohungen. Gewalt. Das ganze Theater um Respekt und Ehre ist Teil eines ungewöhnlichen Workshops, der vom Gleichstellungsprojekt Jungs e.V. in Duisburg angeboten wird. Und die vier Jungs in Lederjacke und Kapuzenshirt sind die sogenannten HeRoes (Helden), die das, was sie heute als Show in Schulen abziehen, teilweise selbst in ihrer Jugend erlebt haben. „Findet ihr cool, was da gerade abgelaufen ist?“, fragen sie die Mädchen und Jungen nach dem Rollenspiel. Schweigen. Ein Finger geht hoch: „Für mich ist das normal.“ Andere nicken. Eine Diskussion über die Frage von Achtung und Verachtung beginnt. Es geht um Respekt, um die Ehre der Familie, um Dinge, die ein Junge angeblich tun muss, um ein Mann zu sein, die ihn am Ende aber schnell zum Straftäter werden lassen.

Doch wer im Norden von Duisburg mit dem Habitus des Halbstarken brechen will, braucht Mut. Hier leben Familien, für die das Faustrecht der Straße gilt.

„Ich musste viele Freunde gehen lassen, um einen anderen Weg einzuschlagen“, sagt Berat Ergüner (22). Heute ist er ein HeRoe. Vor elf Jahren hing er in der Schule genauso lässig auf dem Stuhl wie einige Jungs im Workshop. „Kollege, was guckst du?“ Wer nicht respektvoll den Kopf senkte, spürte Berats Rechte. „Ich war sofort auf 180, kein Lehrer konnte mich stoppen“, erzählt er. Seine Freunde feuerten ihn an: „Gib ihm.“ Hinterher haben sie zusammen eine Zigarette angesteckt. In der 5. Klasse hatte der schmächtige Junge bereits drei Strafanzeigen kassiert und stand ganz oben auf der Liste der Kandidaten, denen die Polizei eine steile kriminelle Karriere vorhersagte. Doch der Rambo mit der kurzen Zündschnur hat doch noch die Kurve gekriegt.

Geholfen hat ihm das Präventionsprogramm „Kurve kriegen“– eine Initiative des Innenministeriums –, das 2011 in acht Modell-Regionen in Nordrhein-Westfalen startete und inzwischen auf mehr als 40 Standorte ausgeweitet wurde. In den vergangenen zwölf Jahren haben Polizisten und Sozialarbeiter mehr als 1.000 Minderjährige von der schiefen Bahn geholt. Berat Ergüner war einer der ersten Teilnehmer. Er erinnert sich noch an den Tag, an dem der heutige Leiter des Kommissariats „Prävention und Opferschutz“ Jörg Bialon bei ihm zu Hause klingelte.

Ein Wohnblock in Duisburg-Hamborn. Der Stadtteil war damals schon auffällig. Im vergangenen Mai eskalierte dort ein Konflikt zwischen Rockern der Hells Angels und Mitgliedern eines türkisch-libanesischen Clans. Delikte wie gefährliche Körperverletzungen, Diebstähle, Sachbeschädigungen und Verstöße gegen das Waffengesetz sind aktenkundig. Hier wuchs Berat Ergüner auf. Dass die Väter seiner Freunde immer mal wieder im Knast waren, fand er normal. Die Mutter öffnete damals Bialon die Tür. Der stellte sich vor: „Wir wollen Ihnen helfen, damit Berat nicht in die Kriminalität abgleitet.“ Dann passierte das, was Bialon später immer wieder erlebte. „Die Mutter bat mich herein und kochte einen Tee.“

Elf Jahre später. Aus dem pubertären Schläger von einst ist ein kräftiger junger Mann geworden, der bei den Wirtschaftsbetrieben Duisburg eine Lehre als Berufskraftfahrer macht. „Im Dezember bin ich Geselle“, sagt Berat Ergüner stolz. Doch an diesem Nachmittag ist er nicht mit dem Müll-Truck unterwegs, sondern parkt seinen 3er-BMW vor der Polizeiwache in Duisburg-Ruhrort, wo 1981 der erste Schimanski-Krimi gedreht wurde. Acht Kilometer entfernt besuchte Berat mehr als 30 Jahre später die 7. Klasse. Irgendwie war es bei ihm auch ein bisschen Krimi, „Ich wurde ständig beschattet“, lacht er. Seine Mutter ließ ihn keine Minute aus den Augen, saß sogar im Unterricht.

Dirk Pfeiffer (61) lacht nicht. „Du hast schließlich ständig Scheiße gebaut.“ Pfeiffer ist einer von vier Sozialarbeitern, die für das Programm „Kurve kriegen“ arbeiten. Nach dem Gespräch mit Berats Mutter hatte Bialon ihn angerufen. Beide begleiteten den Jungen und seine Eltern jahrelang. Heute sitzen die drei in Bialons Büro. Es wirkt fast wie ein kleines Klassentreffen. „Einmal wurde ich beim Klauen erwischt“, erinnert sich der junge Mann. Die Anzeige landete bei Bialon. Der informierte Pfeiffer. Der hat sich den Teenager vorgeknöpft: „Wenn du so weitermachst, gehst du bis zu vier Wochen in den Jugendarrest.“ Doch seine Aufgabe ist es nicht, die Kinder und Jugendlichen zu bestrafen. „Arbeitslosigkeit, Alkohol, Geldsorgen, Gewalt: In den Familien gibt es oft viele Konflikte und Probleme. Wir suchen Lösungen.“

In die Familie Ergüner kam regelmäßig ein Sozialarbeiter. „Der spielte Schlagzeug. Das fand ich cool“, sagt Berat. Und wie zufällig fragte ihn in der Schule ein Lehrer: „Willste in der Pause Schlagzeug spielen?“ Berat wollte. „Der Lehrer hat mir krass vertraut und sogar seinen Schlüsselbund gegeben“, staunt er noch heute. Seitdem schlug er keine Mitschüler mehr, sondern bearbeitete mit Schlagstöcken die Trommeln. Nachmittags reagierte er sich beim American Football ab. Berat ist dankbar: „Meine Eltern hätten sich die Ausrüstung und alles andere gar nicht leisten können.“

Keine Zeit mehr für falsche Freunde – nicht einmal mehr in der Schule. Denn neben Berat saß jetzt Hassan, ein Integrationshelfer. „Hassan hat mich sogar bis vor die Klotür begleitet. Zuerst fand ich’s blöd, dann sind wir gute Kollegen geworden, haben Fußball gespielt, sind ins Kino gegangen. Ich habe meinen Kletterschein gemacht.“ Mit Berats Selbstbewusstsein wuchs auch Hassans Vertrauen. Irgendwann hat er ihn nur noch in der Pause angerufen: „Berat, was treibst du?“ Der sagte: „Alles cool.“ Vor zwei Jahren hat Berat die Schule mit dem Fachabitur verlassen.

Im Durchschnitt sind die Jugendlichen knapp 13 Jahre alt, wenn sie zu „Kurve kriegen“ kommen. Das Programm kostet pro Teilnehmer etwa 11.000 Euro im Jahr. Bei Familie Ergüner bezahlte die öffentliche Hand auch 180 Stunden Elterncoaching für die Mutter, bei der die Nerven blank lagen. „Prävention ist der beste Opferschutz“, sagt Innenminister Herbert Reul. Ein Intensivtäter verletze bis zu seinem 25. Lebensjahr durchschnittlich 100 Menschen. Die sozialen Folgekosten betrügen etwa 1,7 Millionen Euro.

Berat Ergüner gesteht: „Manchmal flippe ich immer noch aus, habe mich aber viel besser im Griff als früher.“ Sozialarbeiter Pfeiffer lehnt sich entspannt zurück. In elf Jahren haben sie 180 Kinder und Jugendliche ins „Kurve kriegen“-Programm geholt, aktuell werden 40 Teilnehmer von ihnen betreut. „Die Hälfte kriegt die Kurve“, berichtet Bialon, der in seinen 40 Dienstjahren bei der Polizei viel gesehen und erlebt hat. „Dieses hier ist eines der besten Programme“, sagt er.

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110